Rattes Tod
Diese traurige, aber ruhmreiche Geschichte kennt jedes kleine Mädchen bei den Anwyr.
Vor langer Zeit lebten zwei Anwyr namens Sperling und Ratte bei den Anwyr. Beide waren die geschicktesten Kriegerinnen ihrer Zeit, damals im Lande Nilla, und als solch ruhmreichen Kriegerinnen erwählte die Mowli sie unter ihre persönliche Leibgarde. Als solche wehrten die Beiden viele Gefahren von ihrer Herrin ab und bewahrten dabei ihr Leben vor den Häschern Porques.
Unter diesen Häschern waren Mann-Krieger, mit starken Armen aber tumben Köpfen, Mörder von diabolischem Geschick, aber feigem Herz und Hexer mit dunklen Zauberkräften, aber vom Wahnsinn gezeichneten Sinnen. All diese Kreaturen trachteten der Mowli nach dem Leben, und alle fanden sie den Tod unter den Klingen von Sperling und Ratte.
Abseits der kriegerischen Kunst aber waren diese Beiden einander sehr zugetan und sich stets treu.
Eines dunklen Abends aber, als weder Sperling noch Ratte die Mowli beschützten, geschah es, dass eine andere Leibwächterin, Rihaia mit Namen, ihren Dienst tat. Schon viele Stunden hatte diese die Kammer ihrer Herrin bewacht, die Mauern dabei im Blick behalten und die Augen waren nun als die Morgenstunde dräute bereits müde.
Nun geschah es, dass eine alte Seherin mit großen Zauberkräften die Gunst der Stunde nutzte sich der Mowli zu nähern. Im Schutze der Dunkelheit glitt sie unbemerkt über die Mauern und wirkte einen Zauber, der die Wächterin mit Müdigkeit schlug, so dass dieser die Augen zufielen. Die Alte schlich um die Schlafende, öffnete die Tür zum Gemach der Mowli und verschwand darin.
Zugleich aber erwachte Ratte aus ihrem Schlaf. Von einer dunklen Ahnung erfüllt sah sie nach dem Rechten und fand Rihaia schlafend. Ihr Alarmruf weckte die Unglückselige und auch Sperling aus ihren Träumen.
"Sprich, Ungetreue, warum Dich mein Säbel nicht sofort niederstrecken soll, wo Du doch das Leben Deiner Herrin durch Deine Luderei gefährdest!"
Rihaia erzitterte und neigte das Haupt, um ihre verdiente Strafe demütig zu empfangen, als sie alle aus dem Schlafgemach der Mowli unheilsverkündende Geräusch vernahmen und alle Drei rasch hineinsprangen. Dort fanden sie die Mowli, den Dolch gezogen und auf die alte Seherin gerichtet, die vor ihrer Lagerstatt stand.
Diese aber sprach:
"Eine wird unverdient sterben, eine wird unverdient leben und eine wird unverdient leiden. Entscheide weise oh Herrin dieses Landes, sonst wird auch Dich binnen eines Mondes der Tod ereilen!"
Mit diesen Worten verschwand das Weib und wo sie zuvor gestanden hatte verwehte nur mehr ihr Gelächter. Die Mowli aber rief ihre Wächterinnen erzürnt zu sich und verlangte Aufklärung, wie die Alte in ihr Schlafgemach hatte gelangen können.
"Weh mir, die ich vom Schlaf übermannt niedergesunken bin. Untreu bin ich an Dir geworden und darum lasse mich von wilden Tieren zerrissen einen schändlichen Tod sterben, denn das Schwert dieser Edlen ist noch zu gut für mich" sprach Rihaia mit bebender Stimme.
Die Mowli aber sah wohl, dass dies zwar gerecht wäre, gedachte aber auch der Worte der Seherin und sprach daher.
"Verdient wäre Dein Tod, doch will ich Dich stattdessen damit bestrafen zu meiner Schutz nie mehr Ruhe zu finden. Daher erhebe Dich, sei von Stund an stets wachsam und lebe weiter."
Zwölf Nächte später, im Dunkel einer mondlosen Nacht, zogen drei der schändlichsten Häscher Porques vor den Palast der Mowli. Ihre wahren Namen hatten sie in Diensten ihres finsteren Herrn längst verloren und man nannte sie nur mehr "Gewalt", "Hinterlist" und "Irrsinn".
In dieser Nacht taten Sperling und Ratte zugleich Dienst als Wächterinnen, denn die Worte der Seherin hatten sie mit Unruhe erfüllt und sie fürchteten daher um das Leben ihrer edlen Herrin.
Der hinterhältige Angriff der drei Ruchlosen aber überraschte auch sie. Wie ein brutrünstiger Keiler, in jeder Hand ein Axt, stürzte sich Gewalt auf die beiden Wächterinnen, die sich ihm mit ihren flinken Klingen entgegenstellten. Doch seine Haut war durch Zauberkraft gestählt und ihre Klingen glitten ein ums andere Mal von ihm ab, während Sperling und Ratte bald von Wunden übersät waren und all ihr Geschick benötigten, um am Leben zu bleiben.
Irrsinn wirkte derweil einen mächtigen Zauber, der den ganzen Palast mit Lähmung schlug und nur die verletzten Kriegerinnen nicht treffen konnte. Nun machte sich Hinterlist daran, das Schlafgemach der Mowli zu öffnen und den tödlich vergifteten Dolch in seiner Hand auf sie zu werfen.
Doch es gab noch jemanden, der von der Lähmung verschont geblieben war. Denn seit die Mowli sie verschont hatte, war Rihaia Stund um Stund, Tag und Nacht wach geblieben. Und wenn der Schlaf sie zu besiegen drohte, hatte sie sich mit spitzen Nadeln gestochen, so dass nun ihr abgemagerter Körper von Wunden übersät war. Damit aber prallte der Zauber von Irrsinn wirkungslos an ihr ab und sie warf sich auf Gewalt, der eben den tödlichen Hieb auf Sperling führen wollte und stattdessen nun sie zum Krüppel schlug. Dies wiederum verschaffte Sperling genug Zeit, ihren Säbel in das Auge des Gegners zu stoßen, das als einziges Körperteil von dem Zauber nicht geschützt war. Tödlich getroffen sank Gewalt daraufhin zu Boden.
Ratte hatte derweil das Schlafgemach der Mowli erreicht, und als der giftige Dolch auf ihre Herrin flog, warf Ratte sich in dessen Bahn und fing ihn mit ihrem Körper auf. Noch im Sterben schlug sie Hinterlist den Kopf ab.
Irrsinn aber hatte ob seines Zaubers den Verstand verloren und fiel unter Sperlings Klinge. Der Spruch der Seherin aber hatte sich damit erfüllt und Sperlings Herz litt von Stund an unter dem Verlust ihrer Geliebten.